(76) Bettwanzen

  • Frank Derricks
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Freitag, 27. April 2018: Ventosa – Azofra (16,6 km)

Um halb zwei wache ich auf und bin nassgeschwitzt. Außerdem juckt es überall. Mist, da sind die Viecher wieder, deren Bekanntschaft ich bereits vor vier Jahren gemacht habe: Bettwanzen! Die Bisse der kleinen Tierchen selber sind weder schmerzhaft noch gefährlich. Krankheiten werden selten übertragen. Es juckt nur von Zeit zu Zeit entsetzlich und die kleinen Pickel und Pusteln verschwinden erst nach vielen Tagen. Außerdem beißt eine Bettwanze (Cimex lectularius) nicht nur einmal und saugt sich dann voll. Nein, das Vieh wandert bei seiner Nahrungsaufnahme über die Haut und beißt immer wieder zu. Ekelig!

Tja, das ist eben die andere Seite des Pilgeralltags, wenn man Pech hat. Den ganzen Tag frage ich mich, ob ich diese kleinen Tierchen jetzt auch noch in meinen Sachen durch Spanien trage. Bei bedecktem Himmel laufe ich über die gleichen staubigen Wege wie gestern weiter nach Westen. Zwar sehe ich einige Rebflächen, aber das sind für mein Gefühl doch recht wenige. Wo kommt denn der ganze Wein her, der teilweise zu Spottpreisen bei uns in den Supermarktregalen steht? Immer wieder wechseln sich Wein- und Getreideanbau ab. Klar, die Spanier brauchen neben Rotwein auch Weizen für die Unmengen von Weißbrot, die hier verzehrt werden. Ich will da mal bei den Klischees bleiben.

In der Ferne zur Rechten, also im Norden, sind die kantabrischen Kordilleren zu erkennen, die sich aus leichtem Nebeln erheben. Auf einem hübschen Pfad geht’s leicht bergauf Richtung Najera. Vorbei an einem Kieswerk laufe ich unter dem bedeckten Himmel und auf der Suche nach einem Rastplatz in die verkehrte Richtung. Also wieder umdrehen und zurück zum Picknickareal, wo ich jetzt auch den Wegweiser erkenne. Es geht weiter vorbei an einem Industriegebiet, und an einer Mauer steht noch immer ein Gedicht auf deutsch geschrieben:

Staub, Schlamm, Sonne und Regen,
das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern
und mehr als tausend Jahre.

Wer ruft dich? Pilger
Welch’ geheime Macht lockt Dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel
noch sind es die großen Kathedralen,

weder die Tapferkeit Navarras
noch der Rioja-Wein
nicht die Meeresfrüchte Galiziens
und auch nicht die Felder Kastiliens.

Pilger, wer ruft dich?
Welch’ geheime Macht lockt Dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs
Noch sind es die ländlichen Traditionen

weder Kultur und Ges[ch]ichte
noch der Hahn Sto. Domingos
nicht der Palast von Gaudi
und auch nicht das Schloß Ponferradas.

All’ dies sehe ich im Vorbeigehen
und dies zu sehen ist ein Genuß
doch die Stimme die mich ruft
fühle ich viel tiefer in mir.

Die Kraft, die mich voran treibt.
Die Macht , die mich anlockt
auch ich kann sie mir nicht erklären.
Dies kann allein er dort oben!

Die auf dieser Seite des Flusses Najerilla gelegene Neustadt Najeras bietet außer einer lustigen Wandmalerei, die auf ein Café hinweist, wenig für die von der grandiosen Landschaft verwöhnten Augen. Nach der Überquerung der Brücke setze ich mich zu einigen Pilgern vor einer Bar in die Sonne. Als die Mitwanderer aufbrechen, verziehe ich mich ins Innere des Lokals, um dort Stromanschluss und WLAN für die Arbeit zu nutzen. So vergehen mehrere Stunden, bevor ich mich wieder aus der Stadt hinausbewege.

Der Ort ist bunt geschmückt, und auf dem Platz vor dem Kloster Santa María la Real aus dem 15. Jahrhundert wird gerade eine Bühne aufgebaut. Ich werde wohl nicht erfahren, was hier gefeiert wird, denn ehe ich mich versehe, habe ich die Ansiedlung bereits auf einem kurzen Anstieg verlassen. Die Sonne scheint noch immer, aber es ist längst nicht mehr so warm, wie in den vergangenen Tagen. In Azofra schwärmen andere Pilger von der kommunalen Herberge des Ortes,  also entschließe ich mich dazu, hier einzuchecken. Diese Herberge bietet 60 Personen Platz in 30 kleinen Zweibettzimmern, und zunächst habe ich die vollen sieben Quadratmeter zur alleinigen Verfügung.

Nach der Dusche und der eingehenden Untersuchung des Schlafsacks auf Bettwanzen hänge ich diesen zum Lüften über die Wäscheleine und gehe in den Ort. Hier sitzen bereits Hermann und Reinhard, und ich geselle mich dazu. Wir unterhalten uns über alles Mögliche und genießen dabei zwei Ankunftsbiere. Die letzten Spanier sitzen noch vom Mittagessen hier, als bereits die ersten Pilger nach Abendessen fragen und enttäuscht zur Kenntnis nehmen müssen, dass es das erst ab sieben Uhr gibt; da heißt es, sich noch gut eine Stunde in Geduld zu üben.

Nachdem ich meinen Schlafsack erneut einer intensiven Untersuchung mit negativem Befund unterzogen habe, bringe ich das Ding wieder aufs Zimmer, welches ich noch immer alleine bewohne und kehre zurück ins Restaurant. Es ist inzwischen recht voll, aber ich finde Platz am Tisch bei Sabine, einer Deutschen Pilgerin meines Alters. Noch in Deutschland hat Ihr der Kaffeesatz prophezeit, im Mai einen neuen Partner zu finden. Ich wünsche ihr viel Glück dabei! Das Abendessen ist ein Pilgermenü, heute mit Salat, Eiern mit Speck und Chorizo sowie einem Eis als Nachtisch.

Auf dem Weg in die Herberge kaufe ich noch eine Flasche Rotwein und eine Prinzenrolle für unterwegs. Im Gemeinschaftsraum angekommen sitzen Michael, Hermann, Reinhard und Eyleen, die ich schon aus St. Jean kenne, mit weiteren Pilgern an einem Tisch und versuchen, der Rioja-Schwemme Herr zu werden. Also stelle ich meine Flasche dazu. Bei angeregten Gesprächen dauert es nicht lange, bis auch dieser Rebensaft die Kehlen hinuntergeflossen ist. Inzwischen ist es halb elf und Zeit zum Schlafen. Ich freue mich, tatsächlich heute Nacht ein Einzelzimmer zu haben und hoffe, dieses auch nicht mit Krabbeltieren teilen zu müssen.