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(71) Traue nicht Deinem Gedächtnis

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Sonntag, 22. April 2018: Puente la Reina – Estella (21,9 km)

Um vier Uhr morgens geht es los. Deutlich vernehmbares Stimmengewirr, Schlurfen über den Gang und irgendwelche technischen Geräte, die in unregelmäßigen Abständen so etwas wie „hello“ von sich geben. Ist das eine Tamagotchi-App? Ich höre das alles trotz Ohrstöpsel. Zum Glück bin ich so faul, dass ich nicht aufstehe. Bestimmt hat meine Faulheit einen oder mehrere Morde auf dem Camino verhindert. Als ich mich um sechs Uhr gerädert aus dem Bett quäle, sehe ich noch einige Koreanerinnen bei irgendwelchen Übungen draußen. Die Türe steht offen, im Waschraum ist es eiskalt.

Als ich wenig später meine Sachen gepackt habe, machen sich die lieben asiatischen Mitpilger gerade auf den Camino. Eingehüllt in lange Hosen, langärmelige Shirts und mit Tüchern als Mundschutz. Hut, Handschuhe und die Sonnenbrille verdecken den Rest der noch sichtbaren Haut. Okay, jeder läuft hier so, wie er oder sie will. Das Gepäck steht sauber zur Abholung bereit. Inklusiver einiger reisekoffergroßer Trolleys, welche auf dem Plattenboden dieser Herberge ganz wundervolle Geräusche von sich geben – morgens um fünf. Manche der Koffer sind so groß, dass ein kleiner Mensch problemlos darin transportiert werden könnte.

Nach einem übersichtlichen Frühstück mit gutem Kaffee sind Robin und ich bereits vor Sonnenaufgang auf dem Weg, aber hell ist es bereits. Die heutige Etappe nach Estella habe ich ohne nennenswerte Steigungen in Erinnerung. Das erzähle ich auch einigen Mitpilgern und höre später häufig Klagen. Es ist ein ständiges Auf und Ab mit teilweise steilen Anstiegen. Zukünftig werde ich mich mit solchen Aussagen zurückhalten.

Der Jakobsweg ist hier sehr gut ausgebaut und führt durch eine wunderschöne Landschaft. Getreidefelder und Weinanbau wechseln sich ab. Am Weg blüht häufig Raps, und auf den Hügeln sind Wälder zu erkennen. Dazwischen schlängelt sich oft der Weg wie ein helles Band Richtung Westen. Das Dorf Cirauqui liegt malerisch auf einem Hügel. Auch hier gibt es neue Infrastruktur in Form von Herbergen, kleinen Läden und Bars. Also lassen wir uns hier für einen Kaffee nieder.

Kurz vor Estella kommen wir an der in einem Olivenhain gelegenen „Eremita San Miguel“ vorbei. Diese fast fensterlose Kapelle stammt aus dem zehnten Jahrhundert und ist somit über 1.000 Jahre alt. Auf dem steinernen Altar des nur von einem Kreuz geschmückten Innenraums haben Pilger Fotos und Zettel mit Wünschen und Botschaften hinterlegt. Wir laufen jedoch weiter und erreichen wenig später Estella, den ehemaligen Sitz der Könige von Navarra. Auch hier gibt es mehrere alte Kirchen und Profanbauwerke zu bestaunen, weshalb die Stadt auch „Estella die Schöne“ genannt wurde.

Die heutige Herberge liegt direkt am Camino und am Fluss. Das Zimmer ist mit zwei Hochbetten und zwei Schlafhöhlen ausgestattet, von denen ich eine beziehe. Mit Robin suche und finde ich in den Gassen der Stadt etwas zum Mittagessen. Anschließend ist für mich Bettruhe angesagt; die kurze letzte Nacht zeigt Wirkung. Den Abend verbringen wir wieder gemeinsam auf dem zentralen Platz der Stadt und finden auf dem Rückweg auch ein italienisches Restaurant, in dem wir Pizza essen. Trotz kleiner Siesta sind wir beide müde, und ich freue mich auf meine Koje, die wenigstens etwas Privatsphäre bietet.