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(67) Vom Winde verweht

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Mittwoch, 18. April 2018: Saint-Jean-Pied-de-Port – Roncesvalles (27,2 km)

Um sechs Uhr ist die Nacht vorbei, und ich bin froh darüber: Gefühlt habe ich kaum geschlafen. Santiago Kim, der Koreaner, der weniger als einen Meter von mir entfernt gelegen hat, fand keine Ruhe. Ich hatte das Gefühl, als wälzte er sich alle paar Minuten von einer auf die andere Seite und schläft dann doch ein. Dann scheint für ihn die Schwerarbeit zu beginnen, deren Ergebnis wir am folgenden Tag sehen können. Auf den Hügeln steht kaum noch ein Baum; Kim hat in den Schlafphasen ganze Arbeit geleistet. Auch wenn ich mich umdrehe, quietscht das Bett, und der Fußboden knarrt.

Um sechs Uhr beschließe ich, dass die Nacht beendet ist und stehe auf. Alles quietscht und knarrt. Auch Kim beendet die Nachtruhe. Wenig später erwacht auch Robin, eine Kalifornierin, die heute Geburtstag hat. Der Frühstückstisch ist super schön gedeckt. Robin und ich sind die ersten, aber wenig später sind alle Herbergsbewohner zu Tisch. Wir singen gemeinsam „Happy Birthday“ und stärken uns für einen anstrengenden Tag. Der Jakobsweg von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles gilt als eine der Königsetappen. Zum einen wegen ihrer Schönheit und der fantastischen Ausblicke, zum anderen aber auch wegen der körperlichen Herausforderung.

Bereits um sieben Uhr machen wir uns auf den Weg und sind beileibe nicht die ersten Pilger. Wir haben erst zwei Kilometer geschafft, als die Sonne am Horizont erscheint. Robin und ich fallen uns in die Arme; ich gratuliere ihr jetzt nochmals zum 35. Geburtstag. Nach achteinhalb Kilometern ist endlich die Herberge Orisson erreicht, wo ich eine Kaffeepause mache und Louisa kennenlerne. Sie kommt, wie fast alle US-Amerikaner, die ich gestern und heute treffe, aus Kalifornien. Das Land am Pazifik muss fast leer sein, so viele Menschen von dort sind auf dem Camino.

Viele Höhenmeter und viele tolle Ausblicke später erreiche ich einen Verkaufsstand mit kalten und warmen Getränken und mache eine weitere Pause. Meine Jacke hatte ich bereits in Orisson aus-, wenig später aber wieder angezogen. Hier oben weht ein Wind, der besser als Sturm bezeichnet werden kann. Ich sehe zweimal, wie Pilgern ihre Schirmmützen abhandenkommen. An ein Hinterherrennen ist nicht zu denken – alle müssen aufpassen, nicht von einer Bö umgeworfen zu werden! Wer nicht am Rand der Straße geht, läuft Gefahr, ein von hinten kommendes Auto nicht zu hören. Die einzigen, die das nicht zu stören scheint, sind die freilaufenden Pferde auf den kargen Weiden. Die Tiere haben hier Kuhglocken um.

Circa fünf Kilometer nach dem Überschreiten der Grenze zu Navarra (Spanien) erklimme ich einen der höchsten Punkte meiner Pilgerfahrt: 1.426 Meter über dem Meeresspiegel. Der Aufstieg von 1.255 Höhenmetern ist geschafft. Zum Kloster geht es jetzt nur noch bergab. Ich wähle den leichteren Weg, der teilweise über eine noch gesperrte Passstraße führt. Trotzdem erreiche ich Roncesvalles vor den Mitpilgern, welche teilweise einen deutlichen Vorsprung hatten. Sie klagen über den matschigen und sehr steilen Abstieg sowie über ihre Knieschmerzen. Noch im Tal wurden die meisten Pilger vor dem Steilen Abstieg gewarnt.

Der Empfang im Kloster erinnert an das Einschiffen auf einem Kreuzfahrtdampfer. Die holländischen Hospitalieros, die diesen Dienst hier freiwillig tun, haben alle(s) im Griff. Es werden Formulare ausgefüllt, Pilgerpässe gestempelt und Pilgermassen abgefertigt. Heute sind es circa 200, die hier in den erst fünf Jahre alten Schlafsälen des Klosters übernachten. Die meisten davon wollen auch am Abend verköstigt werden und kaufen die Wertmarke für das Abendessen in einem der beiden Restaurants des Ortes, welcher fast ausschließlich aus Klostergebäuden besteht, gleich beim Check-in mit.

Es ist ein verdammt gutes Gefühl, diese anstrengende Etappe geschafft zu haben und endlich auf viele andere Pilger zu treffen. Beim Abendessen sitze ich mit Amerikanern, Italienern, Iren und Briten an einem Tisch. Wir unterhalten uns intensiv, laut und auf Englisch, der Sprache des Camino. Der Geräuschpegel im Raum ist enorm, die Stille nach dem Verlassen des Lokals dagegen schon auffällig. Nach dem Essen besuchen sehr viele Pilger die Messe in der Klosterkirche, bei der auch der Pilgersegen in vielen Sprachen, darunter auch Deutsch und Koreanisch, erteilt wird.

Später trinken Robin und ich vor dem Lokal „La Posada“ noch ein Glas Rotwein und lassen ihren Geburtstag ausklingen. Pünktlich um 22:00 Uhr werden die Pforten zur Herberge für die nächsten acht Stunden verschlossen, und wenig später erlischt das Licht. Bei meiner ersten Pilgertour konnte ich nicht über die heutige Strecke (Route Napoleon) laufen, sondern musste auf eine andere, deutlich weniger reizvolle Strecke ausweichen. Danke für diesen anstrengenden, wundervollen und seit über vier Jahren ersehnten Tag.