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(58) Besser als erwartet

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Montag, 9. April 2018: Condom – Montréal (17,0 km)

Na das war ein Abend gestern. Ein Lokal hatte geöffnet. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich nach einer deutlichen Nachfrage den bestellten Wein bekam, kurz nach dem Essen. Der Burger war okay, die Pommes matschig wie der gestrige Weg. Dann fiel das Licht im Restaurant aus – ich war wohl der Einzige, der darüber nicht lachen konnte. Für mich war es einfach ein scheiß Tag.

Heute Morgen regnet es. Ich frühstücke alleine und sehe mich in Gedanken schon im Regencape über die Schlammwege schleichen. Erst gegen viertel nach zehn verlasse ich die Herberge. Meine Schuhe sind kalt und auch innen noch klamm. Ich öffne die Türe, um ein letztes Mal vor meinem Aufbruch das Wetter zu prüfen. Es kommt kein Wasser vom Himmel, die Wolkendecke ist hellgrau. Das interpretiere ich als gutes Wetter und verstaue mein verdrecktes Regencape im Rucksack. Der Ort scheint ausgestorben: Es ist Montag, und Frankreich bleibt geschlossen.

Der Jakobsweg weist heute nur wenige moderate Steigungen und Gefälle auf. Der Zustand ist deutlich besser als erwartet. Zwar kämpfe ich auch heute mit hellem und zähem Matsch und Schlamm, aber ich hatte Schlimmeres erwartet. Die Gegend ist … wie soll ich das sagen? Es ist hier weder hässlich noch besonders schön. Die Gegend ist einfach und bietet außer einer wie neu aussehenden und angeblich mittelalterlichen Brücke keine visuellen Höhepunkte. Die heutige Etappe ist besser als von mir erwartet. Gegen Mittag kommt die Sonne raus, und kurz vor Montréal kann ich sogar meine Jacke ausziehen. Das langärmelige Shirt hatte ich bereits in Condom gegen das rote Poloshirt getauscht.

In Montréal angekommen laufe ich vorbei an … was soll ich erzählen, es ist noch immer Montag, auch in der Kirche. Zum Glück öffnet mir Anita bereits um 14 Uhr die Türe, und ich kann mich in der kleinen Herberge einrichten. Anita ist aus Karlsruhe und hat in Heidelberg studiert. Seit acht Jahren betreibt sie hier während der Saison zwischen April und Oktober eine Pilgerherberge. In jedem Jahr, wenn sie ihre Bleibe wieder geschlossen hat, läuft sie selber einen Jakobsweg. Auch sie ist vom Jakobswegvirus infiziert.

Mit einer Dose Bier, die ich in einem kleinen Laden erstehen konnte, der ab 15 Uhr geöffnet hat, setze ich mich frisch geduscht vor das geschlossene Café am Hauptplatz des kleinen, mittelalterlichen Ortes. Eine Mieze leistet mir zeitweilig Gesellschaft. Auf dem Parkplatz sind auch drei Pferde an einer Leine angebunden. Wären da nicht die Blechkisten, welche statt Hafer Benzin oder Diesel fressen, könnte man tatsächlich denken, im Mittelalter gelandet zu sein. Das Café öffnet um vier, und ich trinke einen Kaffee. Um kurz nach halb sieben fängt es leicht an zu tröpfeln. Ich mache mich auf den „Heimweg“.

Anita hat schon die Wäsche und die Schuhe hereingeholt. Auf das Putzen der Treter habe ich heute verzichtet, sondern nur den groben Dreck mit einem Stock entfernt. Ich bin wieder der einzige Gast und speise zusammen meiner 59jährigen Gastgeberin. Als Apéritif serviert Sie einen „Floc de Gascogne“, eine Spezialität der Gegend. Diese besteht aus einer Mischung von unvergorenem Traubensaft und Armagnac. Beide Zutaten müssen nach den Regeln des Weinbauverbands von demselben Weingut stammen. Wir genießen die Spezialität in rosé, es gibt ihn auch in weiß.

Nach der Gemüse-Kartoffelsuppe essen wir Pasta mit einer leckeren, viel Gemüse und Chorizo enthaltenden, hausgemachten Sauce. Gerne nehme ich den angebotenen Nachschlag. Wir erzählen viel über den Jakobsweg und das einfache Leben ohne viel Ballast in Form von Dingen. Es hat seinen Reiz, aber als Betreiber einer Herberge kann ich mir mich nicht vorstellen. Vielleicht als freiwilliger Helfer für ein oder zwei Monate -mal sehen, was die Zukunft bringt. Um halb zehn ziehe ich mich in mein unbeheiztes Zimmer zurück und liege eine halbe Stunde später im Bett. Der Regen prasselt an die Scheiben. Danke, dass ich ein Dach über dem Kopf habe und trocken schlafen kann.