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Kreuzgang in Moissac

(54) Meisterwerk der Romanik

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Donnerstag, 5. April 2018: Lauzerte – Moissac (27,4 km)

Erst um kurz nach sieben werde ich wach. Die Nacht war wieder unruhig, nicht weil Marc geschnarcht hätte oder wegen anderer Geräusche. Das Bett ist quasi neu und war weder zu hart noch zu weich. Warum ich in den vergangenen Nächten nicht gut schlafe, weiß ich nicht. Wir frühstücken gemeinsam, wobei ich genüsslich die letzte Portionspackung Nutella verzehre, die Hermine mir in Steinheim mit auf den Weg gegeben hat. Marc hat bereits die Herberge verlassen, aber ich trinke noch einen leckeren Kaffee aus dem Kaffeevollautomaten.

Es ist fast neun, als ich das Dorf auf der Straße verlasse und dabei eine Abzweigung verpasse. Der Umweg entspricht meinem Pilgerführer, jedoch der ausgeschilderte Weg verläuft nicht hier. Als ich diesen wiedergefunden habe, geht es auch bald über einen Hohlweg steil bergauf und kurz danach wieder genauso steil bergab. Die Sonne lacht immer mal wieder vom leicht bewölkten Himmel, als ich ein merkwürdiges und fast fenster- und türloses Haus auf Stelzen passiere. Es ist bestens restauriert, und aus meinem Buch erfahre ich, dass es sich um ein für die Region typisches Taubenhaus handelt. Von den Ratten der Lüfte ist allerdings nichts zu sehen.

Nachdem ich bereits 18 Kilometer gelaufen bin, mache ich eine kleine Rast bei sehr freundlichen Menschen, welche sich hier niedergelassen haben. Es ist wieder eines dieser zwiespältigen Erlebnisse zwischen herzlicher Offenheit und ungepflegtem Durcheinander. Die drei, deren Namen ich leider nicht kenne, bieten mir ein Glas Weißwein an und bedauern es, dass die Austern bereits alle sind. Ziegen und Hühner laufen hier ebenso wie drei Hunde frei herum. Als nach einer kurzen Zeit andere Pilger vorbeikommen, schließe ich mich diesen an, denn ich habe noch circa zehn Kilometer vor mir.

Es wird immer sonniger, und auch die Vegetation ändert sich merklich. Immer häufiger sehe ich Akazien und Zypressen. Auch Palmen sind ab und zu anzutreffen. Vor Moissac gilt es wieder, einen langgestreckten Hügel zu erklimmen, um dann, kurz vor dem Erreichen der Kleinstadt Moissac (12.000 Einwohner), auf einem asphaltierten Weg ins Tal zu laufen. Hier erreiche ich den bisherigen Tiefpunkt meines Jakobsweges – geographisch gesehen. Der Ort kurz vor dem Zusammenfluss von Tarn und Garonne liegt nur 74 Meter über dem Meeresspiegel.

Die letzten drei Kilometer bis zum Ziel sind zäh, wie das so oft der Fall ist, wenn ich in eine kleinere Stadt laufe. Die Wege sind geteert, Autos fahren an mir vorbei, viele Werkstätten und Autofritzen jeglicher Couleur. Da bin ich richtig froh, an der bemerkenswerten Kirche angekommen zu sein. Wie von mir zu erwarten ist, nehme ich vor dem gegenüberliegenden Lokal in der Sonne ein Kaltgetränk zu mir, bevor ich dem Gotteshaus einen Besuch abstatte. Wenig später setzen sich Natalie und ihr Vater zu mir. Beide laufen immer wieder ein Stück des Jakobsweges von Genf nach Santiago. Sie sind heute in Lauzerte gestartet und kommen aus der französischen Schweiz.

Der Kirchturm erhebt sich gedrungen über einer angebauten Eingangshalle. Über dem zum südlichen Kirchenvorplatz zeigenden Portal ist wieder ein sehr detailreiches Tympanon aus dem frühen zwölften Jahrhundert zu bewundern. Die äußerst kunstvollen Steinmetzarbeiten setzen sich auch an den Säulen und in der Vorhalle des Portals fort. Der romanische Kirchenbau wurde später nach Osten um zwei Joche und die Apsis erweitert sowie aufgestockt. Das höhere Kirchenschiff erforderte stärkere Pfeiler, weshalb jedes zweite Fenster des romanischen Teils von einer solchen zusätzlichen Stütze verdeckt ist. Innen sieht es so aus, als sei der gesamte Raum bis zur Decke hinauf gefliest. Die Ornamente sind jedoch gemalt.

Den Höhepunkt der Klosteranlage bildet der glücklicherweise erhaltene Kreuzgang. Zwar sind bei fast allen auf den Kapitellen dargestellten Personen die Gesichter oder Köpfe zerstört, aber der Gesamteindruck ist überwältigend. 88 überwiegend Einzel- oder Doppelsäulen mit filigranen Kapitellen stützen zusammen mit den reliefverzierten Eck- und Mittelpfeilern das Dach des Wandelganges der Geistlichen. Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, dass neben dem ehemaligen Refektorium des Klosters auch dieses Meisterwerk der Romanik Mitte des 19. Jahrhunderts dem Bau der Eisenbahn weichen sollte. Eine frühe Bürgerinitiative verhinderte den Abriss.

Mein Nachtlager schlage ich in einer kleinen Herberge auf, welche Luftlinie quasi gegenüber der Kirche liegt. Um den Höhenunterschied von 75 Metern zu überwinden, ist ein Weg von einem halben Kilometer in Kauf zu nehmen. Dafür ist die Aussicht von hier oben fantastisch, und die Madonna hält schützend ihre Hand über die hier nächtigenden Pilger. Nach der Dusche gehe ich mit Siegrid aus Stuttgart, die heute trotz Streiks hier angekommen ist und morgen ihren Jakobsweg nach Santiago fortsetzen wird, hinunter in die Stadt. Bei Wein und Pizza unterhalten wir uns bis in den Abend hinein. Das Schreiben für den Blog bleibt da auf der Strecke.