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(51) Tausend Hände und ein Hund

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Montag, 2. April 2018: Bach – Cahors (28,0 km)

Ich habe prima geschlafen in meinem Einzelzimmer mit privater Trockentoilette auf dem Hof – musste das Ding ja in der Nacht nicht benutzen. Um halb acht – ich habe bereits fast einen ganzen Blogartikel geschrieben – frühstücke ich gemeinsam mit Cathy. Sie hat heute einen längeren Ausritt vor, um das Pferd einer Freundin zu ihr nach Hause zu bringen und war deshalb auch schon früh auf den Beinen.

Von meiner Herberge aus laufe ich zunächst links und dann scharf rechts. Von da an geht es gefühlt immer nur geradeaus auf gut zu laufenden Wegen. Heute habe ich das Outfit gewechselt und laufe jetzt in der dünneren, beigen Sommerhose. Auch obenrum ist Sommer befohlen, aber zunächst brauche ich noch die Jacke, die ich irgendwann später ablegen werde. Das Wetter ist wundervoll und ich genieße die Aussicht auf Wärme am Nachmittag.

Zunächst laufe ich wieder zwischen teilweise neu errichteten Trockenmauern. Diese werden entlang des Jakobsweges von einer Initiative Freiwilliger mit dem Namen „Verein der Tausend Hände“ in mühevoller Handarbeit ausgebessert und neu errichtet, jedes Jahr in einem anderen Abschnitt. Hinter den steinernen Abtrennungen wechseln sich mit Steinen übersäte, magere Weideflächen mit lichtem Laubwald ab. Die Eichen werden auf dem kargen und trockenen Boden kaum höher als sechs bis zehn Meter, und auch die Stämme haben an Umfang nichts mit meinem Bild einer dicken und hochgewachsenen Eiche zu tun.

In Gedanken versunken trabe ich weiter, durchquere kleine Täler ohne Fluss, um anschließend wieder auf den Rücken eines Hügels aufzusteigen. Menschliche Ansiedlungen sind nur in der Ferne zu entdecken. Nach der Überquerung einer Autobahn mache ich vor dem letzten Aufstieg eine kleine Rast und verzehre das etwas zähe Baguette von vorgestern mit Hartwurst und Ziegenkäse aus Cajarc. Vor dem Aufbruch verstaue ich jetzt auch die Jacke im Rucksack und laufe kurzärmelig: Sommer!

Auf einer Anhöhe angekommen sehe ich vor mir einen kleinen Jungen mit großem Hund. Als ich näherkomme, dreht sich das Tier um und bleibt stehen. Es steht unbeweglich da und starrt mich an, gibt aber keinen Ton von sich. Als ich nur noch etwa 20 Meter entfernt bin, läuft der schwarze Hund mit braunen Beinen auf mich zu. Mit einem etwas unguten Gefühl in der Magengegend bleibe ich stehen und lasse ihn an mir schnüffeln. Das Tier ist kräftig und flößt Respekt ein. Offensichtlich rieche ich unbedenklich, und Bello trollt sich wieder.

Erleichtert setze ich meinen Weg fort. Der Hund überholt mich immer wieder und bleibt dann zurück. Irgendwann drehe ich mich um, und der kleine Junge ist weg. Will Bello mich jetzt bist Santiago begleiten? Das Spiel des Überholens, Wartens und wieder Zurückfallenlassens wiederholt sich unzählige Male. Auch als uns zwei offensichtlich streunende Hunde begegnen und ich insgeheim hoffe, Bello losgeworden zu sein, holt er mich wieder ein und setzt das Spiel mit Freude fort. Selbst eine Gruppe von fünf oder sechs Buggies, die von Ihren total verdreckten, aber offensichtlich glücklichen Fahrern über diesen steinigen Pfad gelenkt werden, verscheucht ihn nicht.

Nach dem steilen Abstieg nach Cahors auf einer schmalen Teerstraße ist der Hund noch in meiner Nähe. Autofahrer und andere Menschen strafen mich mit Blicken, die sagen „Nimm das Tier gefälligst an die Leine“. Plötzlich biegt er noch vor dem Fluss links in eine kleine Gasse ab, und ich sehe zu, dass ich den Lot über die „Pont Louis Philippe“ überquere. Ich laufe die Hauptstraße leicht bergauf und stelle mit Freuden fest, dass hier am Nachmittag des Ostermontags mehrere Lokale geöffnet haben. Nach einer Kaffeepause gehe ich rechts in die Altstadt und erreiche die Kathedrale der ca. 20.000 Einwohner zählenden Hauptstadt des Départements Lot.

Die Kirche ist bemerkenswert. Bereits die Westfassade mit den angedeuteten Türmen und dem großen Rundfenster zieht die Blicke auf sich. Im Inneren setzt sich der Stilmix aus romanisch anmutenden Rund- und gotischen Spitzbögen fort und wird gekrönt von zwei gewaltigen Kuppeln, welche von den sechs mächtigen Hauptpfeilern des Gotteshauses getragen werden. Auch die Ausstattung des Innenraums mit Wandmalereien wirkt irgendwie byzantinisch. Empfangen werde ich in der dunklen und kalten Halle von einem äußerst freundlichen älteren Paar. Sie vertreten die örtliche Pilgergemeinschaft und heißen mich als ersten Pilger des Jahres willkommen. Heute ist allerdings der erste Tag, an dem Sie ihren Empfang hier aufgebaut haben.

Michel ruft in einer Herberge an und begleitet mich auf dem kurzen Weg dorthin. Kaum zu glauben, aber die Unterkunft heißt tatsächlich „Le Papillon Vert“, der grüne Schmetterling. Auch hier werde ich herzlich begrüßt und soll mich bei einem mit frischen Kräutern aufgebrühtem Tee zunächst ausruhen. Überall sind Schmetterlinge: Solche aus Plastik, aus Papier gebastelt oder gemalt. Alles ist sehr liebevoll eingerichtet, sauber und sehr aufgeräumt. Es geht also doch: Herzlichkeit, Sauberkeit und eine gewisse Ordnung schließen sich nicht grundsätzlich aus.

Nachdem ich mich geduscht und auch die Wäsche gewaschen habe, gehe ich durch die Stadt und feiere mein persönliches Bergfest. Ich habe die Hälfte des Jakobsweges von Freudenstadt über Santiago de Compostela bis an den Atlantik geschafft. Heute ist nach 51 Tagen und 1.232 Kilometern Halbzeit. Ich bin dankbar und erleichtert, die Pilgerreise bis heute ohne Blessuren oder Krankheiten überstanden zu haben.