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Kapelle Ste Foy mit Conques im Hintergrund

(47) Schweiß und viele Tränen

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
  • Ein Kommentar

Freitag, 23. März 2018: Conques – Decazville (20,0)

Um halb sieben klingelt der Wecker. Die Morgentoilette ist schnell erledigt, und nach dem Frühstück verabschiede ich mich von Anna, ihren Begleitern und den Helfern in der Herberge und begleite Natalia zum Bus. An der Haltestelle haben wir noch einige Minuten Zeit und liegen uns in den ersten Sonnenstrahlen, welche das Dorf erreichen, minutenlang wortlos in den Armen. Da bahnen sich sie Tränen ihren Weg. Ich bleibe noch, bis sich der Bus in Bewegung setzt und laufe dann runter zur alten Pilgerbrücke aus dem Jahr 1410.

Ich bin wieder alleine auf dem Weg, nur die Tränen laufen mit mir. Es geht extrem steil bergauf. Schritt für Schritt auf felsigem und trockenen Untergrund steige ich aufwärts zur Kapelle Ste-Foy. Inzwischen mischt sich Schweiß unter die Tränen und läuft mir über das Gesicht. In der Kapelle läute ich die Glocke, bekomme aber keine Antwort aus Conques. Vielleicht war mein Läuten zu zaghaft oder der Wind hat den Schall in eine andere Richtung getragen. Nochmals geht es bergauf, und nach einer Stunde habe ich erst zweieinhalb Kilometer der heutigen Etappe geschafft.

Wie gestern wechseln sich kaum befahrene Straßen mit Feldwegen ab. Eine weitere Stunde später erreiche ich das Dorf Noailhac, in dem es tatsächlich eine geöffnete Bar gibt. Dort tauchen dann wenig später auch Nicolas und Simon auf. Ich brauche eine längere Pause, und die beiden starten vor mir wieder Richtung Decazville, einer sterbenden Kleinstadt in einem ehemaligen Kohlerevier. Ich fasse den Entschluss, die Pilgerreise zu unterbrechen und morgen mit dem Zug zu meinen Eltern zu fahren. Mein Vater wird in der kommenden Woche an der Hüfte operiert und meine Mama hat morgen Geburtstag.

Die Fahrkarte ist schnell gebucht, und nach einem zweiten Kaffee breche auch ich auf. Das Wetter ist weiterhin gut, jedoch leicht diesig. Bei klarer Sicht soll man von hier oben in Richtung Süden sogar die östlichen Pyrenäen mit den bis zu 3.404 hohen Bergen sehen können. Ich trotte jetzt stetig bergab und bereits vor 14:00 Uhr erreiche ich die hässliche Stadt Decazville. Ich vertreibe mir bei einer Cola die Zeit in einer schäbigen Bar mit wenig motiviertem Personal, bevor ich weiter nach Viviez laufe. Dort werde ich bei äußerst freundlichen Holländern in einem kleinen Schloss übernachten und morgen Richtung Heimat starten.

Am Fluß Mort gehe ich durch heruntergekommene Wohn- und Gewerbegebiete in Richtung des Dorfes mit Anschluss an das französische Fernbahnnetz. Wenn ein Fluss schon so heißt, was will ich dann von der Gegend erwarten? In Viviez gibt es außer einem recht neuen Intermarché nichts. Keinen Kiosk, keine Bäckerei und keine Bar oder Restaurant. Auch der Bahnhof wirkt öde. Das Schloss Viviez liegt nur fünf Gehminuten von hier entfernt und ist eine Insel von Luxus in dieser tristen Ansiedlung.

Am Abend esse ich noch Pizza im Kreise der Familie, welche im vergangenen Jahr das Haus gekauft hat und nun Zimmer oder das ganze Schloss zur Vermietung anbietet. Am Samstagmorgen bringt Wim mich mit dem Auto zum Bahnhof; ich verspreche wiederzukommen. Während ich diesen Artikel schreibe, ist mein Vater bereits wieder auf dem Wege der Genesung und bin ich wieder auf dem Rückweg zu meinem Camino. Es ist Gründonnerstag und morgen laufe ich weiter auf dem Jakobsweg über Cahors, Condom, Saint-Jean-Pied-de-Port, Pamplona, Logroño, Burgos und León nach Santiago de Compostela und weiter bis Fisterra am Atlantik.