(45) Windig und zäh

  • Frank Derricks
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Mittwoch, 21. März 2018: Estaing – La Soulié (21,3)

Laut meinen Raummitbewohnern bin ich gestern sofort, also binnen Sekunden, eingeschlafen und habe mit lautstarken Sägearbeiten begonnen; kann ich gar nicht verstehen, ich habe nichts davon mitbekommen. Also bin ich heute Morgen als erster auf den Beinen und auch rechtzeitig zum Morgengebet im Gebetsraum. Leonard, Chantalle und Elisabeth singen mich in den Tag. Meine Sprachkenntnisse sind leider nicht gut genug, um in der gebotenen Geschwindigkeit zu lesen, mir Gedanken über die Aussprache zu machen und die Töne dann auch noch passend zur Melodie aus meiner Kehle fließen zu lassen.

Anschließend gibt es Frühstück mit selbstgemachter Marmelade. Auch die Mitpilger sind inzwischen aus den Federn gekrochen. Nach dem obligatorischen Selfie mit den „Herbergseltern“ brechen wir auf und kaufen in einem kleinen Laden noch Käse und Taschentücher ein. Letztere gibt es hier nur in einer Klinikpackung, aber es ist weniger das Gewicht, welches mich stört, sondern das Volumen. Brot gibt es hier nicht, und die Bäckerei hat geschlossen – Mercredi!

Bei strahlend blauem Himmel geht es direkt nach der Überquerung der Brücke über den Lot, und wir steigen auf einem steilen Weg durch den Eichenwald wieder aus dem Tal nach oben. Von einer kleinen Ausnahme abgesehen führt der Jakobsweg weitgehend eben bis in das kleine Dorf Saint-Génies-de-Ers. Keine Geschäfte und keine Lokalität. Wir sehen einem jungen Mann, Florian, welcher gerade an seinem VW-Transporter werkelt und fragen ihn, ob es im Ort eine Möglichkeit gibt, einen Kaffee zu trinken. Er verneint entschieden, bietet uns aber an, bei ihm in der Küche einen Tee zu kochen.

Wir sind froh, in einem geschlossenen Raum ohne Wind zu sitzen, auch wenn es hier nicht nennenswert wärmer ist als draußen. Das Wasser aus dem Hahn fließt zur Überraschung von Flo nicht, aber es steht eine Flasche mit Wasser bereit, welches wir für den Tee verwenden können. Später kaufen wir bei Flos Frau noch selbstgemachte Seife und machen uns wieder auf den Weg. Im nächsten Dorf, Campuac, soll es eine geöffnete Bäckerei geben, aber das wird knapp werden, denn wahrscheinlich erreichen wir den Ort nicht mehr vor der Mittagspause. Das Wandern ist heute zäh, und die Hoffnung auf ein frisches Baguette schwindet.

Auf der kleinen Straße kommt uns der Lieferwagen einer Bäckerei entgegen, und wir winken wie verrückt. Die Fahrerin hält an, öffnet die Klappe des Kastenwagens und verkauft uns mit Freude ein Baguette und ein süßes Brot mit Zuckerguss. Wir sind erleichtert und stellen erst jetzt fest, dass bereits mehrere Autos warten, bis die Straße wieder passierbar ist. Wir bedanken uns bei der Bäckerin und den wartenden Autofahrern und ziehen weiter durch den Wind in Richtung Nordwesten. Irgendwann trauen wir kaum unseren Augen, als wir auf einer Weide Büffel sehen.

Ich gehe wieder voraus, bis Natalia irgendwann meint, sie käme sich vor wie ein Esel, der einer Karotte nachjagt. Nur ist es in diesem Fall das frische Baguette, welches deutlich sichtbar aus der Seitentasche meines Rucksacks ragt, dem die Prinzessin hinterherrennt. Wir sind schon fast am Ziel, als wir am Ortsausgang von Campagnac eine Vesperpause einlegen und die mitgebrachten Sachen verzehren. Als Simon und Nicolas erscheinen, teilen wir noch unser Zuckerbrot zum Nachtisch.

Sehr herzlich werden wir in unserer heutigen Herberge von Michel und Vivian empfangen. Auch Anna und ihre beiden Begleiter sind bereits hier, sitzen am großen Tisch und knacken Walnüsse. Die weiße Katze des Hauses hat es sich im Nusskorb bequem gemacht. Hier können wir wieder Wäsche waschen. Die Maschine ist vergleichsweise neu, wird regelmäßig genutzt und gibt auch keine merkwürdigen Geräusche von sich. Natalia bezieht ein großes Prinzessinnenbett im Haupthaus, und ich übernachte mit den beiden Jungs im kleinen Häuschen oberhalb.

Wieder bin ich von der Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit der Menschen erstaunt, ja begeistert. Wir werden großartig verpflegt und übernachten hier gegen eine Spende. Außerdem erklärt Michel uns anhand eines großen Posters das Tympanon von Conques. Die detailreich in Stein gehauene und ursprünglich komplett bemalte Darstellung des Jüngsten Gerichts über dem Westportal der Kirche Ste-Foy gilt als Meisterwerk romanischer Bildhauerkunst. Wir werden die Abteikirche Conques, dieses Wunder der Romanik, wie die Stadt es heute nennt, morgen erreichen.

Nach dem Essen kümmere ich mich mal wieder um die Wäsche und möchte noch einige Zeilen schreiben. Da ich mich aber nicht von der Gruppe abkapseln und in meinen Rechner vertieft danebensitzen will, gerate ich einen weiteren Tag der Berichterstattung in Verzug. Die Kommunikation mit den Mitpilgern und den reizenden Gastgebern ist mir derzeit wichtiger als das Bloggen. Als wir den Gemeinschaftsraum verlassen, um außen zu unserem Schlafraum zu gehen, blicke ich in einen sternenklaren Himmel, und es fühlt sich bitterkalt an. Auch um zum WC oder zur Dusche zu gelangen, müssen wir über die Außentreppe einen Stock nach unten gehen. Ich beschließe daher, heute Nacht die Toilette nicht benutzen zu müssen.