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Alte Brücke in Espalion

(44) Tanzend in den Morgen

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Dienstag, 20. März 2018: Saint-Côme-d’Olt – Estaing (21,8)

Die Nacht im Einzelzimmer tat gut. Die Nase ist zwar noch nicht frei, aber ich fühle mich wesentlich besser als gestern. Ich nutze nun die geräumige Dusche und fühle mich gleich noch besser. Als ich nach unten gehe, ist niemand im Haus, also kümmere ich mich als erstes um die Wäsche. Fast alles ist trocken geworden; nur Natalias grüne Cordhose ist am Bund noch ein wenig feucht. Nachdem ich meine Sachen gepackt habe und erneut in die Stube komme, ist Jean wieder da und hat das Frühstück vorbereitet. Er verabschiedet sich, um die Enkel zur Schule zu fahren, ist aber um neun Uhr wieder da. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, mit welcher Offenheit und mit welchem Vertrauen ich hier empfangen werde.

Nach seiner Rückkehr unterhalten wir uns ein wenig und warten auf die Prinzessin. Als Natalia eintrifft, stellt sie entsetzt fest, dass ihre Kleidung heute eine andere Farbe hat als gestern. Alles ist gräulicher. An meinen Sachen bemerke ich erst beim zweiten Hinsehen eine leichte Farbänderung. Wer weiß, wie lange Jean die Maschine nicht mehr benutzt hat. Im Hintergrund läuft noch immer keltische Musik. Wenig später dreht Jean die Lautstärke hoch und wir beginnen zu tanzen. Es dauert nicht lange und auch ich habe die Gedanken an einen baldigen Aufbruch beiseitegeschoben. Es macht einfach Spaß, so den Tag zu beginnen. Bald geraten wir ins Schwitzen und entledigen uns einer Kleidungsschicht. Wir bekommen Besuch von einem Freund von Jean mit seinem Hund. Beide tanzen sofort mit zum Song „Fee Ra Huri“ von Omnia. Diese Spontaneität ist mir ziemlich fremd, aber ich genieße es.

Erst um halb elf machen wir uns auf den Weg. Dieser führt aus der Stadt hinaus über die Brücke des Lot und sofort wieder rechts. Das nehmen wir sehr wörtlich und landen in einer Sackgasse, haben aber den rechten Weg bald wiedergefunden. Plötzlich hält auf der wenig befahrenen Straße ein Auto, und der Fahrer spricht uns an. Es ist Jean, der uns zeigt, an welcher Stelle wir uns entscheiden müssen, welchen Weg wir gehen wollen: die einfache und ebene Variante am Fluss entlang oder steil nach oben an einem Vulkankrater und einer Marienstatue vorbei. Er empfiehlt den anstrengenden Weg und prophezeit uns, dass wir auf diesem immer an ihn denken werden. Er soll recht behalten.

Steil und steinig geht es bergauf – und wir denken an Jean. Nicht erst an der „Vierge Notre-Dame-de-Vermus“ genießen wir den herrlichen Ausblick über das Flusstal. Am Vulkankrater bestaunen wir die Gesteinsschichten, welche an einer Stelle aussehen, wie eine überdimensionale Jakobsmuschel. Bevor wir die kleine Stadt Espalion erreichen, statten wir noch der aus hellrotem Sandstein erbauten romanischen Kirche „Eglise de Perse“ einen Besuch ab. Diese Besticht durch ihr Tympanon (Schmuckportal) und die bemalten Decken im Innenraum.

Trotz Sonnenscheins ist es kalt, und wir haben Hunger. Also suchen wir ein Restaurant auf, um uns aufzuwärmen und ausnahmsweise ein Mittagsmahl zu uns zu nehmen. Das Essen ist nicht berauschend, aber wir konnten uns aufwärmen und sind gestärkt für den zweiten Teil unserer Tagesetappe. In der kleinen Kirche Saint Pierre zwängen wir uns durch einen unglaublich schmalen und steilen Treppenaufgang in die Oberkapelle. Es ist schlicht faszinierend, in diesem Raum zu stehen, der vor ca. 1.000 Jahren erbaut wurde und die alten Steinmetzarbeiten zu bestaunen.

Danach geht es wieder mal steil bergauf. Es ist wieder echt schwierig, zwischen Felsen, Geröll und dem kleinen Bach, welcher hier wieder entgegenkommt, halbwegs trockene und trittfeste Plätze für die Füße zu finden. Als wir im Dörfchen Verrières ankommen, ist die Sonne bereits hinter den Bergen verschwunden. Es ist nicht mehr weit bis Estaing mit dem hoch aufragenden Schloss der bekannten französischen Familie d‘ Estaing.

In unserer Herberge treffen wir um kurz vor sieben ein und duschen schnell, um gerade noch rechtzeitig zum Tischgebet in der großen Küche einzutreffen. Über der riesigen, alten Kochstelle stehen oben auf dem Sims dutzende Gläser mit selbstgemachter Marmelade in verschiedenen Sorten. Nach dem Essen wird in der kleinen Kapelle eine Art Gottesdienst abgehalten. Alles ist hier streng durchgeplant und gebetet wird mehrmals am Tag. In der Bibliothek finde ich eine Broschüre in englischer Sprache über das Pilgertum in Kevelaer am Niederrhein, dem Geburtsort meines Vaters. Ab 22 Uhr ist Nachtruhe befohlen.