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Ausblick bei Marols

(32) Bergauf ins Künstlerdorf

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Donnerstag, 8. März 2018: Montbrison – Marols (22,9 km)

Die ganz miese Stimmung von gestern ist verflogen, trotzdem bleibt die Einsamkeit. Nach dem Frühstück führe ich noch zwei längere berufliche Telefongespräche und trinke noch einen echten Kaffee (im Hotel war es Instantkaffee, pfui), bevor ich die Stadt verlasse. Zunächst verläuft der Jakobsweg weitgehend eben in südöstlicher Richtung aus der Stadt hinaus.

Auf angenehmen Pfaden und Feldwegen laufe ich über Wiesen und Weiden nun stetig leicht bergauf und immer der Sonne entgegen. Mit dem erklimmen des Montsupt, einem der vielen Vulkankegel der Gegend, gewinne ich weiter an Höhe und kann nochmals die Aussicht auf das Loiretal genießen. Die kleine Kapelle hier oben ist leider verschlossen. Wenig später lässt sich ein bunter Schmetterling auf trockenem Gras geduldig von mir fotografieren, bevor er die Witterung eines Artgenossen aufgenommen hat und davonfliegt. Tatsächlich, ein zweiter Falter ist in der Luft und wird umschwärmt. Ob es sich bei dem nun folgenden Tanz um Balzgehabe oder um einen Revierkampf handelt, vermag ich nicht zu sagen.

Wenig später mache ich in Margerie-Chantagret eine Kaffeepause. Lange kann ich mich nicht aufhalten, denn ich weiß nicht, wie weit ich noch laugen muss. In den vergangenen Tagen habe ich unzählige Versuche unternommen, in Marols oder La Chapelle Pilgerherbergen zu erreichen, leider ohne Erfolg. Mailadresse oder Telefonnummer war unbekannt oder es hat schlicht niemand abgenommen. Die einzige Person, die ich erreicht habe, teilte mir mit, dass die Auberge de Marols bereits ausgebucht sei. Also bin ich heute morgen, besser gesagt war es fast elf Uhr, in Montbrison aufgebrochen, ohne zu wissen, wo ich mich heute Abend betten werde. Auf dem Camino Francés in Spanien ist das kein Problem sondern Normalzustand aber hier ist mir dabei nicht ganz so wohl.

Für eine halbe Stunde schlendere ich auf einem fast ebenen Pfad über die Weiden bevor der Anstieg beginnt. Nach Saint-Jean-Soleymieux, verläuft der Jakobsweg wieder durch den Wald, welcher noch vorwiegend aus kahlen Laubbäumen besteht, weiter oben aber mehr und mehr zu einem Nadelwald mutiert. Es geht teilweise steil und steinig nach oben, ist aber gut zu laufen. Aus dem Wald heraus gelange ich kurz vor Marols auf eine kleine Anhöhe und werde hier für die Anstrengung des Aufstiegs mehr als entschädigt. Die Sonne scheint noch immer und ich habe noch einmal einen atemberaubenden Ausblick auf das obere Tal der Loire.

In Marols sind erstaunlich viele Menschen auf der Straße. Sie kommen mir vor, wie aus meiner frühen Gymnasiumszeit. Die Klamotten sind weit geschnitten oder selbstgestrickt. Zwei Männer laufen mit Kindern auf dem Arm bzw. vor dem Bauch durch das schmucke Künstlerdorf. Auf dem Dorfplatz spielen Kinder und ich werde fast umgerannt. Es ist Merlin, ein ca. sechsjähriger Junge und ich hoffe insgeheim, dass er mir ein Zimmer für heute Nacht herbeizaubern kann, nehme mein Schicksal aber doch besser in die eigene Hand. Ich frage eine Frau von Ende dreißig, ob sie wisse, wo ich heute Nacht schlafen könne. Sie sieht mich aus ihren strahlend blauen Augen an, überlegt und sagt schließlich „Chez nous“.

Ich bin überrascht und freue mich, dass ich so schnell eine Bleibe gefunden habe. Auch Merlin, ihr Sohn, und François, der Mann mit dem Kind auf dem Arm, stimmen einer Übernachtung in ihrem Haus zu. Im Auto fahren wir zu einem ca. zwei Kilometer entfernt gelegenen ehemaligen Bauernhof. Hier gibt es noch viel zu renovieren, aber ich bin froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Kinder hüpfen durch die Wohnung, über das Sofa und laufen über den Wohnzimmertisch, welcher selbstverständlich auch bemalt werden darf.

Die Spielsachen werden jedoch vor dem Schlafengehen in den jeweils eigenen Schrank geräumt. Auch bei Tisch wird weder gezappelt, geschrien noch mit dem Essen gespielt. Die Regeln sind auf mehrere große Blätter geschrieben und gemalt für jeden ersichtlich am Schrank aufgehängt. Auch Neil, der Zweijährige, sitzt auf einem normalen Hocker am Tisch und isst alleine mit einem Löffel. Nach dem veganen Essen wird selbstverständlich beim Abräumen geholfen und Merlin wischt den Tisch ab. Ich bin beeindruckt.

Es ist immer wieder erstaunlich und für mich eine wichtige Erfahrung des Weges, dass Menschen, die selber nicht viel haben, häufig großzügiger, hilfsbereiter und gastfreundlicher sind, als solche, die in größerem Wohlstand leben. Hier muss ich mir an die eigene Nase fassen, was ich heute Nacht auch tue, denn es ist kalt. Die im eilig zurechtgemachten und noch nicht vollständig renovierten Gästezimmer des Hauses aufgestellte Elektroheizung braucht eine Weile, bis sie den Raum auf eine angenehme Temperatur aufgeheizt hat.