Pilgern mit SiNN > Blog: Alle Artikel > Kurzinformation > (22) Weit, windig und kalt

(22) Weit, windig und kalt

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
  • Keine Kommentare

Montag, 26. Februar 2018: Chagny – Le Thil 38,0 km)

Um kurz nach neun verlasse ich das kleine Hôtel de la Poste in Chagny. Nach dem Aufstehen habe ich meine Nase bereits zum Fenster rausgehalten und festgestellt, dass es kalt ist, minus sechs Grad zeigt das Thermometer. Schon im Ort ist es windig. Dafür gibt es auf meinem Weg hinaus auch keine geöffnete Bäckerei. Ich laufe unter den Bahnlinien hindurch, dann bergauf und überquere einen teilweise zugefrorenen, schiffbaren Kanal.

Nach gut drei Kilometern betrete ich einen verwunschenen Märchenwald. Der schmale, mit trockenem Laub bedeckte Pfad windet sich wie eine Schlange durch das geheimnisvolle Dickicht. Die dürren Sträucher und Laubbäume sind zentimeterdick mit leuchtend grünem Moos bewachsen und schließen sich teilweise über mir. So entsteht der Eindruck, durch einen natürlichen Tunnel zu laufen. In diesem Wald gibt es sicher auch Feen und Zwerge, aber nichts davon bekomme ich heute Morgen zu Gesicht.

Als ich aus dem Zauberwald heraustrete, befinde ich mich wieder in den Weinfeldern des Burgund. Wie die seidigen Fäden einer Spinne glänzen die straff über die Reben gespannten Rankdrähte silbrig im Gegenlicht der Sonne. Ich glaube nun auch das Geheimnis der Feuertonnen zu kennen. Auf diesen Gefährten entzünden die Weinbauern ein Feuer und verbrennen darin das trockene Schnittgut der Reben. Sie ersparen sich das Einsammeln und den Transport an eine zentrale Stelle und entsorgen so die abgeschnittenen Triebe direkt vor Ort. Später sehe ich, dass auch hier die moderne Technik Einzug gehalten hat. Ein zwei Rebenreihen überspannendes, Gefährt kriecht fauchend wie ein hungriger Drache über das Feld und frisst gierig die trockenen, auf der Erde liegenden, Triebe in sich hinein, nur um sie direkt, fein zerhäckselt, wieder auszuspucken.

In Mercurey finde ich tatsächlich eine winzige Bäckerei, deren Kundenfläche kleiner ist als die des Fußbodens meiner Küche in Freudenstadt. Bei vier Kunden gleichzeitig ist der Laden brechend voll. Es gibt einen ebenfalls mikroskopisch kleinen „grand café au lait“ aus einem Pappbecher mit aufgesetztem Schnabeltassendeckel aus Plastik. Aber der Kaffee tut trotzdem gut, und mit einem belegten Baguette im Rucksack mache ich mich wieder auf den Weg, welcher erneut bergauf führt, nur um dann wieder in ein Tal abzufallen. Schon wieder geht es steil nach oben, ein Bergrücken und 220 Höhenmeter wollen überwunden werden.

Ein stetiges Rauf und Runter bei Sonnenschein und sehr frischem Wind. Als ich den Aufstieg nach Moroges gerade bewältigt habe, fühlt es sich an wie Sturm. Es ist kaum erträglich. Da huscht etwas Weißes an mir vorbei und bleibt ca. 20 Meter vor mir stehen. Ein weißer Hund mit lustigen schwarzen Flecken schaut mich an, und als er sieht, dass ich ihm „folge“, rennt er weiter. Mit vielleicht 40 cm ist das Tier kein riesiger Hund, aber auch keiner dieser kleinen Kläffer, die Schwierigkeiten hätten, als Wadenbeißer durchzugehen, da sie die die Beißziele nicht erreichen würden. Ich taufe ihn Struppi, wie meinen geliebten riesigen Stoffhund, den ich Weihnachten 1972 geschenkt bekommen und innig geliebt habe, bis er über 10 Jahre später einfach verschwand. Dieser Struppi begleitet mich noch vier Kilometer ohne Jammern oder Betteln. Einfach so, und er schaut immer, ob ich noch da bin. Dann verschwindet auch er ohne Vorwarnung, einfach weg.

Ich habe mich während eines Telefonats verlaufen, finde aber wieder auf den Weg zurück. Der Wind wird immer eisiger, obwohl die Sonne noch am Himmel steht. Langsam habe ich keine Lust mehr. Auch eine in meinem Pilgerführer beschriebene Madonnenstatue lasse ich links liegen. Einfach nur noch laufen. Die letzten Kilometer des Tages empfinde ich schon als heftig, eine Qual ist der Weg aus dem geschützten Wald durch die Weinberge zu meiner Unterkunft. Der Wind brennt auf der Haut.

In dem Örtchen gibt es nichts, und ich sehe mich schon bei Wasser und dem Rest meines Baguettes den Abend verbringen. Doch ich habe Glück, in der großzügigen Ferienwohnung sind noch Spaghetti und Fertigsauce, welche ich mir zubereite. Meine Vermieterin bitte ich um eine Flasche Weißwein aus ihrem Keller, welche ich selbstverständlich bezahle. Ein Premier Cru aus Mercurey, dem Dorf mit der Bäckerei, ist genau das Richtige. Zum Wohl!