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Chassagne-Montrachet

(21) Große Dankbarkeit

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Sonntag, 25. Februar 2018: Beaune – Chagny (20,4km)

Acht Uhr in Beaune. Der Himmel ist stahlblau und die Sonne strahlt als gäbe es kein morgen. Nachdem ich meine Sachen gepackt habe, gehe ich ein wenig durch das nette Städtchen. Noch wirkt es etwas verlassen, denn bei der Saukälte geht kaum jemand freiwillig auf die Straße. In einem Café frühstücke ich und kaufe ein Baguette für unterwegs. Wenig später verabschiede ich mich im Appartement von meinem Gastgeber, einem älteren Herrn, welcher sehr zuvorkommend und überaus freundlich ist.

Durch die schmalen Gassen ziehe ich weiter Richtung Süden. Über Pommard und Volnay führt mich der Weg durch die offenen und weitgehend flachen Rebenfelder. Nichts bietet hier dem frostigen Wind, welcher heute tatsächlich aus Osten kommt, Paroli. Nirgendwo kann ich eine Rast machen. Während ich also meinen Jakobsweg fortsetze, fällt mir auf, dass ich meinen Bose Bluetooth Kopfhörer offensichtlich vergessen habe. So ein Mist, das Ding war teuer.

Plötzlich werde ich von hinten von einer Windböe erfasst und verliere kurz den Halt. So leicht lasse ich mich aber doch nicht umhauen und bleibe standhaft. Von stürmischen Böen und meinen Gedanken abgelenkt, reagiere ich nicht rechtzeitig auf die Freiheitsbestrebungen meines Hutes. Dieser hat sich soeben selbstständig gemacht und tänzelt, vom Wind getrieben, über eine nicht von Reben bestandene freie Fläche. Ich haste hinterher, jedoch fehlt mir, bedingt durch mein eigenes Gewicht und das des Rucksacks, die Leichtigkeit des Hutes. Dieser hüpft jetzt auf die in Reih und Glied stehenden Reben zu. Problemlos schlüpft er unter den straff gespannten Drähten und zwischen den knorrigen Reben hindurch.

Für mich wird es immer schwieriger, denn ich muss mich entscheiden, in welche Rebenreihe ich renne. Schließlich bleibt meine Kopfbedeckung an einem Rebstock hängen und ich haste darauf zu. Als ich den Hut fast greifen kann, reißt er sich wieder los. Über die gespannten Drähte durch den Weinberg zu springen ist für mich ausgeschlossen. Also wieder zurück. Drei Rebenreihen weiter ist das Ding wieder zum Stillstand gekommen. Wieder springe ich zwischen den heiligen Traubenstöcken zu meinem Hut und kann ihn schließlich auch greifen. Völlig außer Puste begebe ich mich wieder zurück auf den Weg.

Ab morgen werde ich meine Kopfbedeckung wohl irgendwie mit einer Kordel oder einem Schnürsenkel an mir oder dem Rucksack befestigen müssen. Weiter geht’s in das nur noch einen Kilometer entfernte Meursault. Hier finde ich tatsächlich gegenüber der Kirche ein Restaurant mit angeschlossener Café-Bar. Nach all den Aufregungen und bei der Kälte wärme ich mich äußerlich und innerlich mit einem Kaffee. Außerdem frage ich André per SMS, ob er den Kopfhörer schon gefunden hat. Jetzt geschieht das Unglaubliche: Er fragt mich, wo ich sei und bedeutet mir, Ihn in einer knappen Stunde am Tourist Office zu treffen. Dieser kleine freundliche Mann bringt mir doch tatsächlich meine Sachen hinterher. Diese große Hilfsbereitschaft macht mich sprachlos.

Um 13:30 Uhr kommt André wirklich nach Meursault und überreicht mir den Kopfhörer. Ich bin überwältigt, und ein paar Tränen kullern über meine Wangen, als ich diesem großherzigen Mann im weißen Renault Clio nachwinke. Danke für die Lektion in Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft.

Den Ort verlasse ich auf einer schmalen Teerstraße nach Südwesten. Heute führt der Weg ausschließlich über diese meist sehr schmalen Straßen. Ich frage mich, wie sich hier zwei Autos begegnen sollen. Häufig werden die schmalen Autopfade links und rechts durch Trockenmauern oder andere steinerne Einfriedungen der Rebenparzellen begrenzt.  Auch in Chassagne-Montrachet dreht sich alles um vergorenen Rebensaft. Manche sagen, aus dieser, nur knapp 10 Hektar großen Grand Cru Lage käme der beste Weißwein der Welt. Ich frage René, den Sommelier meines Vertrauens per WhatsApp, ob ich etwas mitbringen soll. Die Antwort ist: „Egal was, Jaaa! Aber achte auf Deine Kreditkarte.“

Da passiert es wieder. Eine kräftige Böe hebt, wie eine unsichtbare Hand, den Hut vom Kopf. Dieser zappelt und windet sich, kann sich aber nicht von mir trennen. Nach vielen Überlegungen, wie ich das Ding eventuell mit einer Kordel oder einem Schnürsenkel – ich hätte alles dabei – im wahrsten Sinn des Wortes an mich binden könnte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ganz einfach. Ich fädelte ohne weitere Hilfsmittel den Brustgurt des Rucksacks durch das Kinnband des Hutes, fertig. Manchmal sin die einfachen Lösungen auch die besten.

Ich weiß nicht, ob es am Wind und der gefühlten Kälte oder an den geteerten Wegen liegt, aber ich empfinde die heutige Etappe als anstrengend. Dabei habe ich kaum nennenswerte Höhenunterschiede zu überwinden. Die letzten Kilometer nach Chagny führen über etwas, das am besten als Caravan-Friedhof bezeichnen kann, an einer Bahnstrecke entlang und neben viel befahrenen Straßen in das Zentrum des Ortes. Kein Mensch auf der Straße. Ausgerechnet heute haben einige Bars und Restaurants außerplanmäßig geschlossen. Warum? Zum Glück kann ich mein Zimmer bereits beziehen und muss nicht länger in der Kälte verweilen.

Nach einer kurzen Zeit der Augenpflege und einer warmen Dusche wasche ich noch ein Unterhemd, Unterhosen und Socken, bevor ich mich auf die Suche nach einem Lokal für das Abendessen mache. Zunächst lande ich aber in mit Girlanden und Luftschlangen geschmückten Kneipe. Ich bin nicht der einzige Gast. Circa ein Dutzend Menschen sitzen in dem mit blinkenden Lichterketten und einer langsam rotierenden Discokugel ausgestatteten Etablissement und lauschen Musik aus den Siebzigern und Achtzigern. Cindy Lauper, ABBA, Boney M und Modern Talking dringen in mein Ohr, und ich bestelle in dieser dunklen Bierkneipe ein leckeres Weißbier vom Fass, welch ein Frevel in dieser Gegend.