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Kanalschleuse

(19) Einfach nur laufen

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Freitag, 23. Februar 2018: St. Jean-de-Losne – Vougeot (32,7 km)

Trotz Himmelbett habe ich wieder schlecht geschlafen und mich oft länger hin und her gewälzt. Beim Frühstück bin ich um halb acht und staune nicht schlecht. Gerard hat alles aufgefahren, was die Küche hergibt: zehn (10!) Sorten Marmelade, Honig, Nutella, Orangensaft und fünf Sorten Brot … Heute habe ich viel vor und verlasse daher bereits um kurz nach acht meine Airbnb-Bleibe. In St. Jean-de-Losne, auf der anderen Seite der Saône, laufe ich an der verschlossenen Kirche vorbei und bekomme ich im Rathaus einen Stempel für meinen Crendencial (Pilgerausweis).

In einem Supermarkt kaufe ich Nachschub: Papiertaschentücher und Süßigkeiten. Neben dem Eingang stehen SB-Waschmaschinen wie in einem Bushäuschen, also ein Waschsalon ohne Salon. Sowas brauche ich spätestens morgen Nachmittag auch.

Ich mache mich auf den Weg aus der Stadt heraus durch den Hafen. Hier liegen viele teilweise große Schiffe, deren beste Zeit bereits vorüber ist. Bei manchen Kähnen wundere ich mich, dass soviel Rost noch schwimmt. Weiter hinten liegt ein großes Hafenbecken, in dem sich viele kleinere und größere Motor- und Segelboote tummeln; ein eschter kleiner Jachthafen. Im Sommer ist hier bestimmt eine lebendigere Stimmung.

Am schnurgeraden Kanal entlang laufe ich nach Brazey-en-Plaine und finde dort eine geöffnete Bar. Im Nebenraum tummelt sich eine mir unbekannte Anzahl ausschließlich männlicher Gäste rauchend und sich lautstark in einer fremden Sprache unterhaltend. Der Durchgang ist mit einem Vorhang gegen neugierige Blicke verhängt und auch die sehr freundliche Wirtin, eine blonde Frau meines Alters mit asymmetrischem Pagenschnitt, scheint hier keinen Zutritt zu haben. Während ich meinen Café trinke, bekomme ich nach unzähligen vergeblichen Versuchen in den vergangenen Wochen endlich auch mein mobiles WLAN zum Laufen. Mit der Karte eines zweiten Anbieters habe ich weitere vier GB pro Monat, welche hoffentlich ausreichen.

Vor dem Ortsausgang kaufe ich noch eine riesige Käsestange mit Speckstückchen. Das wird mein Mittagessen werden. Ab jetzt wird es eintönig. Hinter dem Ort frischt der Wind wieder auf und ich ziehe mein Stirnband an. Hätte der Hut kein sicherndes Band, er wäre längst vom eisigen Ostwind davongetragen worden. Das Land hier ist unglaublich flach und der Weg führt jetzt meistens über mal mehr und mal weniger befahrene Straßen. So ist Pilgern mehr Buße denn Freude. Nach insgesamt 18 Kilometern erreiche ich das vor fast 1.000 Jahren gegründete Kloster „Abbaye Notre-Dame de Cîteaux“, heute das Mutterhaus aller Zisterzienserklöster weltweit.

Es ist windig, kalt und kein Mensch zu sehen. Alle Gebäude sind verschlossen und es herrscht eine merkwürdig eisige Atmosphäre, welche von der modernen Kirche noch unterstrichen wird. Also halte ich mich hier nicht lange auf, sondern setze meinen langweiligen Weg nach Westen durch den frostigen Polarwind fort. Wenn mir auf der Straße ein LKW entgegenkommt, gehe ich so weit wie möglich an den Rand, ohne in den Graben zu rutschen. Obwohl fast alle Fahrzeuge weiträumig ausweichen, fegen mich der enorme Fahrtwind der gefühlt mit 120 km/h vorbeirasenden Laster fast aus den Pilgerschuhen. Erst nachdem das bösartige Donnern sich legt und in zu einem fernen Rauschen wird, find ich wieder festen Halt und kann, nachdem ich Rucksack und Hut zurechtgerückt habe, meinen Jakobsweg wieder fortsetzen.

Durch zwei für mich namenlose Dörfer laufe ich Richtung Vougeot. Vor dem Ort geht es noch über eine Autobahnbrücke. In Deutschland würden wir uns über diese Verkehrsdichte an einem Freitagnachmittag um 15 Uhr freuen. An einer Unterführung entdecke ich folgendes Zitat: „Ein Volk, das bereit ist, ein wenig Freiheit für ein wenig Sicherheit zu opfern, verdient weder das eine noch das andere und verliert am Ende beides!“(frei nach Benjamin Franklin). Das sollten wir nie vergessen.

Heute ist Schmetterlingstag und ich bin spät dran. Hoffentlich klappt es heute mit einer Videokonferenz über Skype. Im Dorf, welches mein heutiges Ziel markiert, hat kein Café oder Restaurant geöffnet. Der Handyempfang lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Die einzige Möglichkeit, die Stunde bis zum Öffnen des Hotels in einer einigermaßen warmen Umgebung zu verbringen, ist ein Besuch im Verkostungsraum einer Weinkellerei. Statt Café au lait probiere ich einen Crémant aus dem Burgund und drei Weine lokale Weine aus Vougeot. Köstlich! Aber leider gibt es das alles nur in homöopathischen Dosen.

Hier kann ich auch windgeschützt mit den Kindern der Schmetterlingsgruppe telefonieren. Mobiles Internet ist wieder miserabel und WLAN nicht vorhanden. Drei der Kinder sind heute leider erkrankt und nicht in der Kinderwerkstatt. Große Fragen brennen auf der Seele: Was gibt es zu Essen? Habe ich mich verletzt? Ist es kalt? Wie viele Schritte bin ich gelaufen? Da ich die letzte Frage nicht beantworten kann, sei dies hier nachgeholt: 637.188.

Später streife ich durch das schmucke Dorf auf der Suche nach einem Restaurant. Es ist kalt und der Wind pfeift noch immer durch die Gassen. Alles ist dunkel, nichts rührt sich. Es fehlen nur noch diese vertrockneten Büsche, die in einem Western über die Straßen geweht werden. Essen fällt also aus. Zum Glück habe ich noch ein Stück Käsestange übrig. Damit es mit dem Leitungswasser nicht ganz so langweilig wird, betrinke ich mich mit sechs Mon Cherie. Prost und gute Nacht!