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(106) Ankunft in Santiago

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Sonntag, 27. Mai 2018: A Rúa – Santiago de Compostela (21,3 km)

In der letzten Nacht gab es wie in der Nacht zuvor in der Nähe ein „Feuerwerk“. Nicht dass es ein funkelndes Lichtspektakel am Himmel gegeben hätte. Einfach nur in die Luft geschossene ohrenbetäubend laute Böller. Sonst nichts, aber das minutenlang. Der Lärm in diesem Land macht mir inzwischen echt zu schaffen. Irgendwann ist auch das vorüber, und ich schlafe wieder ein.

Die letzten Kilometer nach Santiago de Compostela liegen vor uns. Nach einem mäßigen, aber dafür auch teuren Frühstück brechen wir auf. Es ist wieder stark bewölkt, jedoch nicht kalt – die Jacke muss ich schon nach kurzer Zeit wieder ausziehen. Unsere Wege sind super zu laufen, auch die Gegend ist wie in den vergangenen Tagen auch. Vielleicht fehlt mir heute auch einfach der Blick für die Landschaft. Mal rieche ich wieder Hustenbonbons, dann blicke ich wieder auf grüne Hügel. Heute geht es nur noch darum, in Santiago de Compostela anzukommen.

Nach einer Kaffeepause in O Amenal geht es ein ganzes Stück bergauf bis auf die Höhe des Flughafens der Hauptstadt Galiciens. Auf diesem Weg durch den Wald muss ich einfach heulen. Mal geht mir vieles durch den Kopf, mal ist da nur noch Leere. Ein Glücksgefühl will sich einfach nicht einstellen. Ich kann es noch nicht ganz glauben, nun schon mehr als 2.400 Kilometer gelaufen zu sein. Was kommt, wenn wir Santiago und wenige Tage später Finisterre erreicht haben? Wie wird das „normale“ Leben sein? Werde ich nochmals hierherkommen? Alles Fragen, mit denen ich mich jetzt noch nicht beschäftigen möchte.

Nach dem Umrunden des nördlichen Endes der Start- und Landebahn des Luftbahnhofs geht es für circa fünf Kilometer wieder leicht bergab. Nach einer Mittagspause in Vilamaior kommt der letzte stärkere Aufstieg, an dessen Ende der „Monte do Gozo“, der Berg der Freude erreicht ist. Das unglaublich hässliche Denkmal beachten wir nicht weiter, aber von hier kann man die berühmte Kathedrale mit ihren drei barocken Türmen sehen. Bis zur Westfassade und dem davorliegenden Praza do Obradoiro sind es aber noch lange und hässliche fünftausend Meter. Wir überqueren die Autobahn, eine Bahnstrecke und eine mehrspurige Nationalstraße.

Da ist es, das Ortsschild von Santiago. Ich bin erstaunt: Es scheint gerade erst erneuert worden zu sein. Viele Menschen haben hier das Bedürfnis, sich zu verewigen oder Aufkleber anzubringen. Nach weiteren unspannenden drei Kilometern durch hässliche Vorstadtidylle erreichen wir endlich die Altstadt. Jetzt ist es nicht mehr weit. Durch die schmalen Gassen nähern wir uns dem Platz zwischen der „Hospedería San Martín Pinario“, einem günstigen Hotel in einem alten Kloster, und dem Nordportal der Kathedrale, in der sich das Grab von Jakobus dem Älteren, einem Apostel Jesu, befinden soll.

Hier erwarten uns meine Mama und ihre Freundin Trude, die uns herzlich begrüßen. Wieder fließen einige Tränen. Gemeinsam durchqueren wir den Torbogen zum bereits oben genannten großen Platz vor der Kathedrale. Das letzte große Zwischenziel ist erreicht. Ergriffen stehen wir vor der üppigen barocken Westfassade des Gotteshauses, welche auf den spanischen Cent-Münzen abgebildet ist und seit Jahren aufwändig restauriert wird.

Es ist merkwürdig, aber wie vor vier Jahren kommt bei mir keine echte Freude auf. Ich empfinde es fast schon als Stress, mich mit Massen von Touristen durch die engen Gassen der Stadt zu quälen. Auch wenn es in den letzten Tagen auf dem Camino sehr voll war, so bewegten sich doch alle wenigstens in dieselbe Richtung. Zu den Pilgern gesellen sich jetzt auch noch große Reisegruppen, welche unter anderem mit unzähligen Reisebussen täglich aus A Coruña direkt von den dort festmachenden Kreuzfahrtriesen in das Weltkulturerbe gekarrt werden. Für mich ist das wieder ein Schock, und ich bin froh, mit Hermine das kleine Hotel zu erreichen, in dem wir für zwei Nächte einchecken.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Weg für mich noch nicht zu Ende ist. Das Schmetterlings-Projekt heißt ja „Von Freudenstadt bis ans Ende der Welt“. Also laufen wir am Dienstag weiter bis zum Kap Finisterre, wo im Mittelalter die damals bekannte Welt zu Ende war. Bei der Rückkehr nach Santiago am kommenden Montag wird dann gefeiert.