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(102) Versunkene Stadt

  • Frank Derricks
  • Kurzinformation, Projekt, Tagebuch
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Mittwoch, 23. Mai 2018: Sarria – Portomarín (22,6 km)

Nach einer erholsamen Nacht starten wir mit einem tollen Frühstück in den Tag. Neben Tostadas mit Marmelade gibt es auch Wurst und Käse sowie frische kleine Pfannkuchen mit Sirup oder flüssiger Schokolade. Die Schweizerinnen am Tisch sind ganz erstaunt, dass ich nach über 2.300 Kilometern „noch so frisch“ aussehe. Offenbar haben sie erwartet, dass jemand nach dieser Strecke einfach fix und fertig sein muss.

Durch zahlreiche, teilweise winzige Dörfer und häufig mit tierischer Begleitung folgen wir dem Jakobsweg auf guten Pfaden leicht bergauf. Am Morgen ist es teilweise noch nebelig und der Weitblick dadurch sehr eingeschränkt. Langsam kämpft sich wieder die Sonne durch den Nebel, und gegen Mittag hat sie es endlich geschafft. Wir erleben für die Gegend und die Jahreszeit typisches Wetter: Am Morgen Nebel, danach Sonnenschein und am späten Nachmittag Regen oder Gewitter.

Bei Sonnenschein erreichen wir bei Kilometer 102 vor Santiago die „Casa Morgade“, eine wunderbare kleine Herberge, die professionell und sehr freundlich geführt wird. Vor vier Jahren hatte ich hier übernachtet und mich sehr wohlgefühlt. Hermine und ich teilen uns ein leckeres Bocadillo mit Chorizo-Omelette. Nach der ausgedehnten Pause wartet schon das nächste Highlight des Weges auf uns: der 100-Kilometer-Stein. Wir sind jetzt zweistellig! Es geht weiter durch diese unglaublich grüne und sehr hügelige Landschaft Richtung Stausee.

Den extrem steilen Abstieg ersparen wir uns und gehen einen nur wenig längeren Weg bis zur „neuen“ Brücke, welche uns über den aufgestauten Fluss Miño nach Portomarin trägt. Die alte Bogenbrücke liegt bestimmt 15 Meter unter dem Wasserspiegel, und die romanische Brücke daneben war bereits beim Bau der 40 km entfernten Staumauer zerstört. Man hat einen Bogen der alten Brücke mitsamt Torhaus am Ende der modernen Brücke wiederaufgebaut und mit einer 42 Stufen langen Treppe versehen. Das ist jetzt der Eingang nach Portomarin. Das gesamte Dorf wurde am Hang mit Arkadengängen entlang der Hauptstraße neu erbaut. Es erinnert ein wenig an den Marktplatz in Freudenstadt. Die alte Wehrkirche San Nicolás wurde Stein für Stein abgetragen und mitten im neuen Ort wieder zusammengebaut.

Die Herberge ist nicht ausgebucht, so bleiben wir alleine im Zimmer, welches sogar über einen Balkon mit Seeblick verfügt. Zum Abendessen begeben wir uns in den Ort und treffen viele Pilger wieder. Es gibt zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal Pilgermenü. Der Hunger treibt’s rein. Als wir den Heimweg antreten wollen, schüttet es in Strömen. Wir sind sozusagen gezwungen, noch etwas Wartewein zu trinken, bevor wir nach Hause können.